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Zum Kotzen

Als ich vor ein paar Wochen mit einem der wohl fünf wichtigsten Banker Österreichs hoch über den Dächern Wiens zu Mittag aß, war es eine nebenbei im drumherumgestrickten Smalltalk fallengelassene Bemerkung des besagten Herrn, die mich gleich erschütterte und seither umtreibt und nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. En passant erwähnte er,
seine Bank sei seit einiger Zeit davon abgerückt, die Mitarbeiter aus dem Pool der Handelsschul- und Handelsakademieabgänger¹ zur rekrutieren. Vielmehr würden fast ausnahmslos Lehrlinge aufgenommen. Sie durchlaufen im bewährten dualen Ausbildungssystem die reguläre Lehre samt Berufsschulbesuch zum Bankkaufmann, gleichzeitig das bankinterne, mehrstufige Ausbildungsprogramm und eine Mittelschulausbildung. Der Banker: „Mit 18 Jahren haben unsere Mitarbeiter eine abgeschlossene Lehre, unsere eigene modulare Ausbildung und die staatliche Matura.“

Mit Zorn und Gram erfüllt es mich, wenn wir das mitnichten in der Backbranche (da sind durchaus auch die Konditoren mitgemeint), ja weder im Lebensmittelgewerbe, noch im Handel oder in der Gastronomie/Hotellerie zuwege bringen. All die frommen Sprüche seitens der Wirtschaftskammer oder einschlägiger Ministerien und sonstiger sich berufen Fühlender von wegen „Karriere mit Lehre“, „Lehre mit Matura“ usw. verpuffen seit Jahrzehnten im Nirwana der Selbsttäuschung und Beschwichtigung; wohl mehr der eigenen als der anderer.

Da wird zwar mit geschwollener Hühnerbrust herumgetönt, man habe die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit von überhaupt, tut aber scheint’s alles, diesen Status zu unterminieren. Wie sonst soll man ein bildungsministerielles Arbeitspapier verstehen, das mit knappsten Fristen fast hinterrücks den Vertretern der Wirtschaft zur „Begutachtung“ übermittelt wurde? Darin wird in einem „Rahmenlehrplan“ bzw. im „Kompetenzraster Fachunterricht“ reichlich verschroben festgeschrieben, künftige Bäckerlehrlinge sollten u.a. „die Entwicklung des Bäckergewerbes recherchieren und präsentieren sowie die Branchen- und Marktstellung mit dem Angebot eines Betriebes darlegen“. Es geht noch besser: „… können nach Ermittlung des Warenbedarfs Qualitäts- und Preisvergleiche recherchieren, den Warenfluss von der Auswahl der Lieferantinnen und Lieferanten bis zur Übernahme des Produktes durch die Kundinnen und Kunden erarbeiten und erklären.“ Oder: „… können nach den Richtlinien des HACCP bzw. dem Lebensmittel- und Verbraucherschutzgesetz anhand von Backwaren Gefahren analysieren, die kritischen Kontrollpunkte auf allen Prozessstufen festlegen und begründen, sowie die nötigen Checklisten erstellen und führen.“ Weiters: „… können Rezepte auf die Bestimmungen des Codex alimentarius Austriacus überprüfen und gegebenenfalls korrigieren; können den Energiebedarf sowie den Nährwert mit Hilfe einer Nährwerttabelle computergestützt berechnen und erklären.“ Noch ist nicht genug: „… können für die Verpackung von Backwaren die richtigen Verpackungsmaterialien auswählen, die Auswahl begründen, Produkte fachgerecht deklarieren und unter Berücksichtigung der werbetechnischen Grundsätze eine Produktpräsentation entwickeln.“ Dazu solle u.a. folgender Lehrstoff vermittelt werden: „Berufseinschlägige Sicherheitsbestimmungen und -vorschriften. Hygienestandards. Zöliakie. Laktoseintoleranz. Diabetes.  Bluthochdruck. Codex alimentarius Austriacus. Energiebedarf- und Nährwertberechnungen. Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz. Europäisches Lebensmittelrecht. Verdauungsorgane. Stoffwechsel. Biologische, chemische und physikalische Prozesse.“

Dem Verfasser, der sich seit vielen, vielen Jahren in der Backszene auch weit über Europa hinaus herumtreibt, ist kein einziger solcher Fachmann bekannt, der gleichermaßen Lebensmitteltechnologe, Lebensmittelrechter, Qualitätsbeauftragter, Marketing-, Verkaufs- und Werbemensch, Ernährungswissenschaftler, Diätologe, Arzt, Verpackungsspezialist und was weiß ich noch alles wäre. Darf’s wenigstens noch ein bissl Bäcker sein? – Dass dann noch 80 Stunden „Deutsch und berufsbezogene Kommunikation“ (das ist wohl der alte „Schriftverkehr“?), jedoch 100 Stunden „Berufsbezogene Fremdsprache“ drinstehen, rundet das Bild nur ab.
Vohr zwei Monad wussde ich noch nicht, wie mann Indscheniör schreipt; und häude binn ich eineß.
Wer in drei Teufels Namen schwingt sich da auf, solche Rahmenlehrpläne zu verbrechen?

Dazu zwei Beispiele aus der jüngsten Praxis:

1. Ein einigermaßen verzweifelter Bäcker, der seit Jahren mit Überzeugung Lehrlinge ausbildet und nun die Stellen für das kommende Ausbildungsjahr besetzen möchte, schrieb vergangene Woche wörtlich:
„… Als er mir vorgestellt wurde, unterzog ich ihn gleich der altbekannten Prüfungsfrage ‚3 x 17‘. Er blickte mich etwas verdutzt an und meinte nachdem unser Produktionsleiter und ich ihm in Summe unsere 20 Finger zur Verfügung stellten, er bräuchte einen Zettel und einen Bleistift. Nun schrieb ich ihm die Zahlen auf und sagte ihm, damit er sich leichter tue, schreibe ich einmal  ‚3 x 17‘ und einmal ‚17 x 3‘ auf. Er kam nach dreiminütigem Multiplizieren – ich habe ihm aber, um ihn nicht zu verwirren, nicht gesagt, dass diese Rechenart Multiplizieren heißt – zum Ergebnis 40!!! Daraufhin meinten wir, er solle sich noch ein bisschen annähern, worauf er uns die Zahl 57 nannte. Wir erklärten dann, der Bursche solle sich doch die Übung für zu Hause aufheben und uns am Donnerstag das Ergebnis liefern.“

2. Das Mitglied einer Abschlussprüfungskommission; ebenso wörtlich, diesfalls mündlich:
„Wir haben schon lange aufgehört, den Kandidaten im sogenannten ‚Fachgespräch‘ gezielte Fragen zu stellen. Unsere erste Frage lautet immer: ‚Was können Sie besonders gut, worüber möchten Sie uns was sagen?‘ In den allermeisten Fällen kriegen wir darauf keine Antwort. Dann sagen wir halt, ‚Erzählen Sie uns bitte, was Sie gestern im Betrieb getan haben‘ und hoffen, daraus so etwas wie ein Gespräch zu entwickeln.“

Anscheinend hat es dazu mittlerweile eine Besprechung im Ministerium gegeben, die allerdings wohl mehr ein Abstecken der Claims und Darlegen der Argumente war; von Ergebnissen ist derweil nichts bekannt.
Es wäre jedenfalls fatal, würde den Lehrbetrieben endgültig die Lust am Ausbilden vergällt! Oder ist das gar die eigentliche Absicht, damit endlich der uralte Sozitraum in Erfüllung geht, die Berufsausbildung in zentralen Ausbildungsstätten abzuwickeln; auf dass die jungen Leute stets kontrolliert und rechtzeitig indoktriniert würden? Immer wieder wurde politikerseits ja eine „Ausbildungsgarantie“ für junge Menschen abgegeben.

Ich hoffe sehr, dass nicht alle Bäcker schon resigniert haben. Warum nicht, wie erfolgreicherweise SPAR oder McDonald’s, den umgekehrten Weg gehen und selbst Berufsschulen einrichten, mit eigenen Lehrplänen, exakt abgestimmt auf die tatsächlichen Notwendigkeiten? – Wer jetzt meint, still sein zu sollen, müde sein zu wollen, macht sich schuldig!

Hier sei ein unverdächtiger Zeuge zitiert: Dr. Helmut Zilk (1927 – 2008), Sozialdemokrat, Lehrer, scharfsinniger und -sichtiger Journalist, der mit mutigen Ideen und Konzepten zur Entpolitisierung und Neuausrichtung des österreichischen Rundfunks beitrug, visionärer und großherziger Ermöglicher als Wiener Kulturstadtrat, nachmalig jovialer Wiener Bürgermeister, im Rahmen der Briefbombenattentate schwerst verletzt, meinte anlässlich seiner Bestellung zum Unterrichtsminister, die Parteipolitik im Schulwesen sei „zum Kotzen“.

Ich will mich nun keineswegs hinter einem verblichenen Großen verschanzen. Und gebe höchstselbst zu Protokoll: Es ist zum Kotzen. Kübelweise.


¹ Für Nichtösterreicher: Die Handelsakademien (HAK) wurden Mitte des 19. Jh. in der damaligen Monarchie als berufsbildende höhere Schulen eingerichtet und bieten seither eine fundierte, fünfjährige kaufmännisch-betriebswirtschaftliche Ausbildung, die mit der Reifeprüfung (Matura, Abitur) abschließt und zum Universitätsstudium berechtigt. HAK-Absolventen, denen früher sogar der Titel „Volkswirt“ verliehen wurde, gelten als gesuchte, hochgeschätzte, überaus praxistaugliche Mitarbeiter, die oft in eindrücklichen Beispielen den Weg vom mittleren Management in höchste Führungsetagen fanden. Die Ausbildung und vor allem Qualifikation ist wohl jederzeit einem angelsächsischen College wenn nicht einem Bachelor vergleichbar.