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Zum Speiben

Manchmal, da zieht es mich einfach nach Verona. Nicht unbedingt auf die Piazza Bra mit der Arena, zur Porta Borsari, auf die Piazza delle Erbe, Piazza dei Signori, zu den Skaliger Gräbern; schon gar nicht zu „Julias Haus“. Eher in den Schatten der großteils noch romanischen, wunderbaren Basilika San Zeno, die dem Veroneser Stadtpatron geweiht ist, in ihren Ursprüngen wohl schon im 4. Jahrhundert entstand und von Pippin, dem Sohn Karls des Großen, entscheidend gefördert wurde. Bewacht von den beiden apotropäischen Löwen, die das Eingangsportal schützen und stützen und nicht selten von Kindern als Reittiere gebraucht werden, lasse ich mich auf dem Platz vor dem „Al Calmiere“ nieder. – Oder, wenn’s mir noch mehr aufs Essen denn auf das himmlische Ambiente ankommt bzw. ich mir’s einfach nicht antun möchte, in die Stadt zu fahren, in die peripheren, vielleicht noch authentischeren „Ca’ de l’Ebreo“ (wörtlich: „Haus des Juden“, im Norden) respektive – mein absoluter Favorit! – „Cavour“ (Dossobuono, im Süden).
Nein, da brauch ich keine Speisekarte! Schon 316 Kilometer lang freue ich mich auf einfache, wohlschmeckende Speisen: Zuerst eine „Pasta ai tre (quattro) sughi“. Hausgemachte Bandnudeln (Tagliatelle) werden mit einer Butterflocke und, je nach Haus, drei, vier
Saucen serviert; Ragù ([Kalbs-] Hackfleisch), Hühnerlebern, Tomatensauce, Erbsen. Und dann das „Bollito misto“, das Gemischte Gesottene, das vom Wagen serviert und vor Ort nach den individuellen Gelüsten des Gastes zusammengestellt wird: Huhn, Kalb, Rind, Truthahn, Schweinswurst (Cotechino), (gefüllte) Schweinshaxen (Zampone), Zunge, Kalbskopf … Dazu werden die drei klassischen Saucen gereicht, die „Salsa verde“ (grüne Sauce, ähnlich in Frankfurt), die „Pearà“ (Dialekt des Veneto; eigentlich „pepata“, also die „gepfefferte“, deren Hauptbestandteil Brotbrösel sind, dazu Knochenmark, Rindssuppe und eben reichlich Pfeffer) und Kren (Meerrettich); nicht zu vergessen, die „Mostarda“, die eingelegten, kandierten Senffrüchte.

Mindestens ebenso gern fahre ich in die andere Richtung, nach Bayern. Allein um der allerorts noch andächtig zelebrierten Brotzeit willen. Ja schon der Name adelt und hebt sie empor gegenüber anderen regional üblichen Bezeichnungen, wie etwa Ves(ch)per im Schwäbischen, Neinerlen (von neun Uhr) und Marend(e) im Tirolerischen, entsprechend z’ Nüni und z’ Vieri (wörtlich um neun bzw. um vier Uhr) in der Schweiz, oder Gabelfrühstück¹ und Jause in Ost- und Südösterreich. Brot ist der zentrale, namengebende, ja die ganze Mahlzeit begründende Bestandteil! Selbstredend gehören in Bayern kesselfrische Weißwürste, die genüsslich gezuzelt werden, der „Obatzde“ (gewürzte Käse-Buttermischung), der „Radi“ (Rettich) dazu, Schweinsbraten, Presssack, Grieben-/Grammelschmalz, Leberkäse … Und selbstverständlich darf das frische Brot auch in Form einer Brez’n gereicht werden!

Und wenn sich schon eine körperliche Reise nicht ausgeht, dann wenigstens eine ideelle, virtuelle: Man zieht sich samstagabends genüsslich einen boarischen Krimi rein, diesfalls den „Dampfnudelblues“ mit Sebastian Bezzel²: sympathisch erd- und menschenverbunden, viel Lokalkolorit ohne die also doch nicht ganz so unvermeidlichen Alpinklischees mit glühenden Bergspitzen, schmachtvollen Sonnenuntergängen und dirndlumspannten aus- und einladenden Busen; nicht alles heile Welt und Happy-Pepi.

Vollends unheil allerdings wird die niederbayrische Welt angesichts zweier, dreier Filmszenen: Der lässige zum Dorfgendarmen degradierte Agrocop, frönt seiner Leidenschaft und genießt Leberkässemmeln (wie weiland der Schäferhund die Wurstsemmeln bei „Kommissar Rex“) – drei Stück müssen’s sein und in der Schreibtischlade liegen anstatt der Stifte feinsäuberlich aufgereiht die Senftuben – einmal beim Metzger, einmal im Büro. Und beim Imbissstand gibt’s eine deftige Brotzeit. Aber jedes Mal werden dazu die hinterletzten Semmeln, die man sich in seinen abscheulichsten Träumen nicht vorstellen möchte, kredenzt: schrumpelig, blass, gummihaft, vielfältig im urtümlichsten Wortsinn, mit Setzfalten und Dellen … man hat den Eindruck, wenn man sie zusammendrückte, würden sie binnen Kurzem wieder ihre grausliche Schaumgummiform annehmen. – Wenn man sich dereinst die Backwaren aus dem 3-D-Drucker liefern lässt, können sie nicht viel schlechter sein.
Und man hat den Eindruck, der Requisiteur sei zwar detail- und kenntnisreich imstande, den gezeigten Sado-Masokeller auszustatten, habe jedoch nicht die geringste Ahnung und/ oder Lust, sich um eine ordentliche Brotzeit zu kümmern: irgendwie vergessen, Semmeln zu besorgen und dann im letzten Augenblick beim schwindligsten Diskonter die schwindligsten und billigsten Brötchen, die schon stundenlang in der Theke schmachten und halt grad noch übrig waren, geholt. – Gerade in Bayern mit seinen noch weitgehend intakten dörflichen Strukturen, mit einer noch relativ hohen „Bäckerdichte“ und mit einem passend ordentlichen Kultur- und Selbstverständnis – just vor ein paar Wochen verkündete man genugtuungsvoll, es sei „nach sechsjährigem Kampf“ gelungen, die bayrische Brezen als geschützte geografische Herkunftsangabe EU-weit eintragen zu lassen, womit sie nur noch in Bayern erzeugt werden dürfe – vollkommen unverständlich.
Oder ist das am End verstecktes Product-Placement, gesponsert von einem transatlantischen Fast-Food-Konzern, dem, so stand es jüngst zu lesen, stetig die Umsätze wegbrechen?
Wenn man in den diversen Filmabspännen so liest, wofür alles Spezialberater und -experten engagiert werden, wäre glatt zu überlegen, ob die Innungen nicht offiziell beauftragte Medien-Gebäckberater ausbilden und installieren sollten. Eine identitätsstiftende Aufgabe möglicherweise. (Anfragen an den Verfasser jederzeit willkommen!)

Weil so, und das ist dem Branchenimage überaus abträglich, sind die gezeigten Semmeln einfach zum Speiben. – Das ist die bayerisch-österreichische Form von Kotzen!


¹ Es sei nochmals auf Josef Weinhebers „Phäaken“ verwiesen: Blogeintrag vom 1.1.2014.

² Bayrischer Rundfunk, Samstag, 26.4.14, 20:15 Uhr.